Eine gute Frage. Vielleicht glaubte ich tatsächlich, wenn ich Berlin verlassen und irgendwo weit weg von allen Enttäuschungen ein neues Leben beginnen würde, könnte ich es schnell hinter mir lassen und aus meinem Kopf verbannen. Aber so einfach ist das nicht. Man kann sein Leben nicht einfach so hinter sich lassen und neu anfangen. Ein guter Freund, er ist Pastor in unserer Kirchengemeinde, verdeutlichte es mir mit sehr verständlichen Worten:
„Ich freue mich, dass Sie einen Neuanfang gemacht haben. Ein Neuanfang heißt aber nicht, dass man von null anfängt. Wir sind immer die Menschen, die wir in der Geschichte unseres Seins geworden sind. Diese Erfahrungen prägen uns und machen uns zu den Menschen, die wir sind. Diese Erfahrungen sind nicht nur positiv, sondern auch negativ besetzt. Gerade mit den negativen müssen wir lernen umzugehen. Einerseits haben wir keine andere Wahl als sie zu akzeptieren bzw. hinzunehmen: es ist geschehen, was geschehen ist und wir können es nicht mehr ungetan machen. Andrerseits können wir schon unsere Haltung zu dem Ereignis bzw. zu der Person überdenken und sogar ändern. Ich denke, da kommen die Begriffe verzeihen und vergeben ins Spiel.
Anderen Menschen verzeihen hilft mir, mich von einer negativen Situation zu lösen und sie loszulassen. Es ist schlimm genug, dass es geschehen ist, aber ich möchte mich von dem Ereignis nicht noch länger bestimmen lassen. … “
Nachdem ich im November 2014 mich für ein Leben ohne meinen Mann und ohne meine Herkunftsfamilie entschied, war es für mich nicht leicht, erkennen zu müssen, dass mich niemand verstehen will. Weil ich Fragen zu meinem Leben und der heutigen Wahrnehmung meines Erlebten stellte, die für meine Eltern unbequem und für meinen Mann ohne Interesse waren, nahmen sie alle nicht wahr, wie schwer dieser Weg für mich war. Schwierig deshalb, weil ich ihn ganz allein gehen musste und mich niemand auf meinem Weg begleiten wollte. Sie wollten nicht sehen, dass mir diese Aufarbeitung nicht nur wichtig, sondern für meine dauerhafte Genesung dringend notwendig war.
Ich bekam keine Antworten auf die vielen Fragen von den Menschen in meinem persönlichen Umfeld. Doch da sie mich quälten und ich meinen ständig steigenden Wissensdurst befriedigen wollte, forschte ich lange Zeit allein weiter. Bis ich Ruth Hoffmann und Gerd Keil, meinen jetzigen Lebenspartner, persönlich kennenlernte und von ihnen viele meiner Fragen beantwortet bekam. Sie beide bestimmten mich in meinen weiteren Nachforschungen. Ruth ist mir eine sehr gute Freundin und Gerd mein Lebenspartner geworden. Durch sie lernte ich endlich auch Freunde kennen, die mich verstanden, weil auch sie sich mit dem Erlebten in der DDR auseinandersetzten und auf die gleichen Probleme des Schweigens stießen. Ich wollte wissen, wer Gerd heute ist, der damals so Schreckliches in der DDR erleben musste.
Ich ließ mich für verschiedene Ehrenämter unter dem Dach der Kirche ausbilden und helfe heute Menschen, die sich in besonderen Krisensituationen befinden. Meine Zeit schenke ich ihnen gern, leihe ihnen meine Augen und Ohren und führe viele gute Gespräche mit Menschen in allen Altersgruppen. Sehr oft wird mir ihr Dank sofort zu teil und dies bedeutet für mich unsagbar viel. Ich kann so vieles zurückgeben und mich in unserer Gemeinde einbringen.