Eigene Erfahrungen und mehr ...
In erster Linie haben wir, Gerd Keil (mein Lebenspartner) und ich, uns für diese Anhörung vor der Kommission, die mit sehr empathischen und fachkompetenten Mitarbeitern bestückt ist, entschieden, um mit unseren Erfahrungen, die wir zum größten Teil vor allem aus den eigenen durchgemachten Therapien, die verdammt schwer durchzuhalten waren, schöpfen konnten, anderen Betroffenen Mut zu machen. Mut für das Beenden eines langen Tabus, über das Geschehene reden zu können und sich zur Wehr zu setzen, statt die Schuld auf sich selbst zu laden, die doch ganz andere zu tragen haben. Wir wollen mit unserem Aussprechen unserer Gefühle von tiefer Scham, Ekel und unsagbarer Pein andere ermutigen, das gleiche zu tun und ihnen sagen, ihr seid nicht allein. Gemeinsam können wir es schaffen und wollen heute die Gesellschaft wachrütteln, sie aufmerksam machen, dass sie nicht wegschauen dürfen, sondern wachsamer gegenüber Anzeichen möglichen Kindesmissbrauchs zu werden, um künftig solche Taten schneller und besser bekämpfen zu können. Dazu gehören eine sehr frühzeitig einsetzende Aufklärung, das Gestatten von Neinsagen dürfen der Kinder und die ständige gezielte Schulung von Erziehern, Familienberatern, Lehrern und Jugendamtspersonal, damit sie das nötige Rüstzeug haben, Anzeichen frühzeitig zu erkennen und den Kindern ihre Hilfe anzubieten.
Erfahren durften wir während unser Anhörung aber auch etwas, dass wir so nicht erwartet haben. Etwas ganz Wichtiges auch für uns selbst.
Das einmalig unsagbar gute Gefühl, von uns völlig fremden Personen mit unserer ganzen Verletzlichkeit angenommen worden zu sein. Ohne den Druck irgendeiner Beweiserbringung, aber mit sehr viel Empathie und Verständnis durften wir frei erzählen, was uns so viele Jahre auf der Seele liegt, wofür wir leider bis heute keine Anerkennung und keinen Raum bekamen, über das Geschehene reden zu können. Wir durften erzählen, ohne mit Schuldzuweisungen, z. B. „du hast nicht nein gesagt und dich nicht gewehrt“, konfrontiert zu werden, wie es so häufig immer wieder zu hören ist.
Habt den Mut, helft aufzuklären, um Missbrauch nicht weiter zu tabuisieren.
Auch wir wurden nach Leipzig zum 2. Öffentlichen Hearing eingeladen. Gerd Keil war einer von vier Podiumsgäste, um dort noch einmal über seine Anhörung und den Erlebnissen sexuellen Missbrauchs bei der Pioniereisenbahn zu berichten.
Ich bereitete mich auch selbst vor, um endlich auch meiner verletzten stummen Seele eine Stimme zu geben. Nachdem Gerd Keil (mein Lebenspartner seit 2015) und René Münch über ihre Ereignisse und den Folgen sprachen, meldete ich mich und wollte meinen Beitrag halten, doch an der Stelle, als ich direkt beim Thema Eltern und ihres Nichtbemerkens der kindlichen Veränderungen ankam, konnte ich nicht mehr weiterlesen bzw. weiterreden. Ich dachte an die tiefen Verletzungen meiner Mutter, die nicht im Stande war, mit mir vernünftig darüber zu reden. Dabei wollte ich doch nur endlich von ihr mal in den Arm genommen werden und ein „Es tut mir leid, was dir geschehen ist“ einmal von ihr zu hören. Stattdessen drohte sie mir, mit einem „Warum muss ich so etwas immer erfahren? Ich kann nicht mehr. Ich möchte gar nicht mehr leben.“ Ich empfand einfach nur Mitleid für sie, obwohl sie mich erpresste. Doch alle Familienmitglieder, also meine Halbbrüder, meine Schwägerin luden mir stattdessen nur noch mehr Schuldgefühle auf und verboten mir, darüber zu reden. Es sei nicht mehr zu ändern, aber ich gefährde die Gesundheit meiner Eltern. Nur was war mit meiner Gesundheit? Die interessierte auch heute niemand.
Schließlich versagte meine Stimme sehr schnell und ich gab das Wort an den nächsten ab. Ich war nicht die einzige Betroffene, der bis heute die Sprache versagt, wenn es um die Erlebnisse, aber vor allem um das Tabu des Redens über sexuellen Kindesmissbrauch mit der speziellen Thematik der diktatorischen Sozialisierung ging.
Hier der Wortlaut dessen, was ich sagen wollte, aber nur zum Teil erzählen konnte.
Ich bin Manuela Keilholz 1960 geboren und gekommen, um meiner Seele endlich auch Stimme zu geben. 2012 redete, nein schrieb ich erstmals über die Geschehnisse sexuellen Missbrauchs. 2013 suchte ich das Gespräch mit meinen Eltern, die inzwischen schon über 25 Jahre geschieden waren.
Auf der Suche nach dem Warum?
Es gibt viele Fragen nach einem Warum, die dieses Thema berühren, (Pause)…die mich quälen.
Warum ist immer nur mir dies geschehen? Warum machen das so viele Menschen mit mir? Warum konnte ich nicht deutlich „Nein“ sagen? Warum wollten die Täter mein zaghaftes Flüstern „ich will das nicht“ und mein verletztes Weinen nicht hören?
Und letztlich noch…
Warum habe ich mich niemanden anvertraut, niemanden etwas davon erzählt? Warum sah mich keiner?
Auf die erste Frage habe ich heute dank dessen, dass es diese Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs an Kindern gibt, eine für mich sehr wichtige Antwort bekommen.
Nein, ich bin nicht allein mit dieser Erfahrung. Nein, es ist nicht nur mir geschehen, leider und gleichzeitig gut zu wissen, dass ich nicht allein bin. Die vielen Anhörungen, die vielen Gäste heute hier und ihre traurigen Lebensgeschichten, die zum Teil ihren besonderen Hintergrund. in der DDR aufgewachsen zu sein, finden.
Ich habe im Alter von etwa knapp 6 Jahren bis 9 Jahren Missbräuche innerhalb als auch außerhalb der Familie erfahren müssen. Die Missbräuche begannen mit denen meiner Halbbrüder an mir als ich endlich nach 5jährigem Aufenthalt im Alter von 7 Jahren in der DDR-Wochenkrippe bzw. Wochenheim in meine Familie durfte. Ich wusste nur, dass ich nun endlich ein Schulkind war und nie wieder in dieses Heim musste.
Anders als hier berichtet wurde, waren diese Wochenheime geschaffen worden, in denen nicht der Staat, sondern die Eltern selbst entschieden haben, ihre Kinder dort die Woche über abzugeben, um sich mit ganzer Kraft ihrer Vollbeschäftigung zu widmen. Planerfüllung war das oberste Gebot in diesem sozialistischen Staat und linientreue Eltern, wie die meinen, gaben alles für den Aufbau dieser neuen Gesellschaftsordnung. Ihre ganze Kraft und ja, AUCH ihre Kinder.
Über die vielen Jahre war ich immer nur an dem halben Wochenende, also Samstagnachmittag und Sonntag in meiner Familie und hatte wenig Zeit sie wirklich kennenzulernen. Zu meinen Halbbrüdern habe ich keine wirkliche Erinnerung aus dieser Zeit. Sie waren mir fremd, obwohl ich immer von einem großen Bruder träumte, der mich, seine kleine Schwester beschützen würde. Ich wusste, dass ich eine Familie hatte, glaubte von ihnen geliebt zu werden. Nach fast fünf Jahren Wochenheim wurde ich Schulkind und durfte nun jeden Tag in meiner Familie sein.
Doch plötzlich bemerkte ich, dass ich hier sehr fremd war. Meine Halbbrüder spielten immer nur miteinander und tobten sich im Friedrichshain aus. Ich wollte doch aber zu ihnen gehören, ich wollte beachtet werden. Auch meine Mutter war mit ihrer eisigen Kälte mir sehr fremd. Ich kam eingeschüchtert und extrem zurückhaltend aus diesem Heim und zog mich sofort auch hier zurück. Ich habe meine Kindheit immer als „Nichtbeachtet worden zu sein“ wahrgenommen und litt permanent unter Liebesentzug, Mangel an der Nähe der Eltern und erlebte meine Mutter, die eine eisige Kälte und Härte ausstrahlte, dass ich glaubte, immer alles tun zu müssen, was sie erwartete, nur um ein bisschen Wärme und Liebe zu bekommen. Ein sogenanntes Urvertrauen konnte somit auch nie entstehen.
Eines Abends, meine Eltern waren ins Kino gegangen, wir bekamen die Anweisungen uns ruhig in der Wohnung zu verhalten und nicht an die Tür zu gehen, wenn jemand klingelt. Mein älterer Halbbruder nutzte diese Gelegenheit, kam völlig unerwartet zu mir ins Bett – was mir erst einmal angenehm war. Ich dachte er wolle nett zu mir sein, mit mir kuscheln, doch dann passierte es und es war mir eklig und absolut peinlich. Ich wollte es nicht und flüsterte vorsichtig, dass ich das nicht wolle. Nein sagen, wollte ich nicht. Konnte ich nicht. Angst ihn zu verärgern und wieder von ihm nicht beachtet zu werden. Ich wollte doch eine gewisse Nähe zu meinem Halbbruder, ja verdammt, aber doch nicht so. Es passierte immer wieder und dann nahm er mich zu einem Kumpel mit, der deutlich älter war. Was hier geschah, war mit das Schlimmste, was mir passierte und es fehlen mir alle Erinnerungen, was danach war. Ich wusste einfach nichts mehr. Nicht wie ich danach wieder aus diesem Loch kam, nicht wie und wer mich anzog und auch nicht, ob ich allein nach Hause ging, oder ob mein Halbbruder wiedererschien. Was ich aber wusste, war, dass ich mich viele Jahre immer einschloss ins Bad und ein Handtuch vor das Schlüsselloch hing, um wirklich allein zu sein.
Noch eine weitere Person, diesmal ein älterer Mann um die 50 Jahre alt, verging sich an mich mit seiner ekligen großen Hand während eines Kinderfilmes im Kino. Auch hier war ich bewegungs- und handlungsunfähig. Auch hier erzählte ich niemanden davon. Scham – Ekel – Nichtwissen wie ich so etwas erzählen soll, könnten einige der Gründe sein.
Vielleicht aber auch, weil meine Mutter in einer Scheinwelt lebte, in der die Familie das Allerheiligste war und ist und wir als Kinder immer zu funktionieren hatten. Die heile oder saubere Familie musste nach außen immer geschützt werden. Nichts was irgendwie nicht linienkonform war, durfte nach außen dringen und besonders dann nicht, wenn die Stasi einen Blick auf deine Familie hatte.
Uns einen viele traurige Gemeinsamkeiten, aber alle die heute gekommen sind, eint auch ein starker Wille, mit unseren Erfahrungen heute dafür einzutreten, dass dieses Tabu endlich aufgelöst wird, in dem wir darüber reden und so hoffentlich heutige Opfer ebenfalls ermutigen, ihrem Gefühl eine Stimme zu geben. Zum einen für uns selbst und zum anderen, um so der heutigen Gesellschaft und Politik zu sagen, dass sexueller Missbrauch auch heute ein Thema ist und es besonders schwer für die Betroffenen ist, ertragen zu müssen, dass Signale einfach übersehen werden, weil immer wieder lieber weggeschaut wird als genauer hinzuschauen. Kinder, denen so etwas widerfährt, können nicht von selbst reden, sie müssen in einer sehr vertrauten Atmosphäre angesprochen werden. Fragen, weshalb sie so traurig sind, was sie bedrückt und dabei mit ihnen sehr vertrauensvoll zu reden. Hilfestellung bei dem Finden der Worte für das, was vermutet wird, geben usw.
Was wünsche ich mir von der heutigen Gesellschaft?
Aufhebung der Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch an Kindern, Ich habe erstmals 45 Jahre danach geredet, weil ich es erst während meiner Therapie lernen musste, darüber zu reden. Ich war zuvor nicht in der Lage dazu und als ich es konnte, da war längst alles verjährt und statt mit mir zu reden, ein Wort der Entschuldigung der Täter wurde mir mit einer Verleumdungsklage gedroht.
Soforthilfe schon bei Verdacht des sexuellen Missbrauchs für die Opfer, aber vor allem auch für die vielen Bezugspersonen von Kindern, wie Lehrer, Erzieher und Sozialpädagogen, denen die Angst vor Konsequenzen genommen wird, wenn sich ihr geäußerter Verdacht zum Glück nicht bestätigt.
Opfer brauchen Schutz und eine Vertrauensbasis, vor allem bei Missbrauch innerhalb der Familien, meist hilft es dem Kind nicht, wenn die Polizei bei den Eltern klingelt und von dem Verdacht berichtet und dann wieder geht, weil das Kind dann aus Angst vor den Reaktionen der Eltern sagt, es sei nichts gewesen. Auch glauben und fühlen diese Kinder sehr genau, dass sie Angst haben, die Familie zu zerstören, wenn sie erzählen würden. Wenn ich nur daran denke, was gewesen wäre, wenn ich damals geredet hätte. Meine Eltern würden eingesperrt und wir Kinder in ein Heim gegeben, doch wollte ich nie mehr wieder dorthin. Sehr oft drohte mein Vater meinen Halbbruder an, ihn in ein Heim geben zu müssen, wenn er sich nicht endlich an die Regeln hält.
Womöglich habe ich mich ja auch nicht an die Regeln gehalten, weil ich nichts sagte, nichts sagen konnte oder es geschehen ließ? So ähnlich erging es vielen von uns.
Bekanntmachung von anonymen Hilfen, wie Kindernotdienste, Telefonseelsorge u. ä. in Schulen und öffentlichen Einrichtungen, sowie
Fortbildungen und Präventionsarbeit in den Schulen, unter Nutzung der gesammelten Erfahrungen dieser Kommission und der Polizei ggf. auch unter evtl. Einbeziehung der erwachsenen Opfer, die in schulischen Veranstaltung berichten und offen darüber sprechen.
Kinder dürfen und sollen NEIN sagen können, wenn sie ein Unbehagen spüren! Doch dies müssen sie lernen und so früh wie nur möglich, sollte auch deshalb, die Aufklärung kindgerecht beginnen.
Ich bedanke mich abschließend bei dieser Kommission für ihre so wichtige Arbeit, die unbedingt weiter fortgeführt werden muss, wenn wir das Tabu des Schweigens in unserer heutigen Gesellschaft brechen wollen.
Mehr über dieses Hearing vom 11.10.17 können Sie im Stern vom 12.10.17 Nr. 42 lesen und natürlich auch auf der Seite der Aufarbeitungskommission.